Anneliese Holzemer
In letzter Zeit häufen sich im Fernsehen wieder Bombardierungen auf zivile Ziele, die mich sehr bewegen und mich veranlassen, eine sehr persönliche Erinnerung niederzuschreiben und festzuhalten.
Im Januar 1945, als der Zweite Weltkrieg auf beiden Seiten in seine brutalste Phase gelangt war, mussten in Adenau alle Schulen wegen der ständigen Luftangriffe geschlossen werden. Das untere Adenau um den Bahnhof als Versorgungsstandort für die Westfront zwischen Prüm und Bitburg war damals sehr häufig Angriffsziel englischer Lightnings (Doppelrumpf-Flieger) und Jabos. Das Kölner Kinderheim in der Wimbachstraße war als Lazarett umfunktioniert worden, wo die verwundeten Soldaten von der Westfront versorgt wurden. Das Rote Kreuz suchte damals händeringend nach freiwilligen Hilfskräften.
So kam es, dass eine Freundin meiner Mutter auf mich zukam und mich fragte, ob ich bereit sei, einer Krankenschwester im Lazarett mit leichten Arbeiten zur Hand zu gehen. Dies war für mich Ehrensache und so kam ich zu Schwester Freia in den Schlafsaal auf der ersten Etage. Schwester Freia, eine ausgebildete Krankenschwester, war froh mit mir und es machte mich stolz, dass sie mich bei ihren Kolleginnen lobte. Ich war 15 Jahre alt und gewohnt, zuzupacken, wo es nötig war.
Zu Anfang meiner Tage im Lazarett wurde ein schwer verwundeter Soldat eingeliefert. Aus seinem verbundenen Kopf schauten nur Augen und Mund hervor. An seinem Bett war ein Namensschild angebracht: Hauptmann Müller. Mit kaum vernehmbarer Stimme rief er mich herbei und sagte: „Schwesterchen, bring mir bitte meine Brille“. Den Wunsch konnte ich ihm leider nicht erfüllen. Am nächsten Morgen fand ich sein Bett leer. Da wurde mir klar, dass er dort, wo er jetzt war, keine Brille mehr brauchte.
Meine Eltern wähnten mich in Sicherheit und für mein Essen war auch gesorgt. Das Kölner Kinderheim, ein wunderschöner Bau, steht etwas erhöht an der Straße nach Wimbach. Auf drei Etagen reihte sich damals Bett an Bett mit verwundeten Soldaten von der Westfront. Im Keller befand sich eine große Küche. Im hinteren Teil des Hauses, etwa 20 m über den Hof, war eine geräumige Liegehalle. In dieser Halle bekamen die Soldaten die Erstversorgung, nachdem sie mit den „Sankas“ von der Front direkt dorthin gebracht worden waren. Nie werde ich die irrenden Blicke und das Jammern der oftmals noch so jungen Soldaten vergessen!
Direkt vor der Liegehalle stand Fritz mit seiner Gulaschkanone und dem Teekessel. Er trug, ganz so wie es sich für einen richtigen Koch gehört, eine weiße Hose und dazu schwarze Stiefel. Wie jeden Mittag ging ich kurz vor 12 Uhr mit einem Topf ausgerüstet zu Fritz und freute mich schon auf seine köstliche Suppe, die für die Schwestern und auch für mich bestimmt war. Fritz sagte mir diesmal, die Suppe sei noch nicht ganz fertig, es würde noch etwa zehn Minuten dauern. Das kam mir gerade recht, um noch rasch die Toilette im Haupthaus aufzusuchen. Auf dem Weg dorthin begegnete mir Martha Zenzen. Mit einer Mappe unter dem Arm war sie auf dem Weg, die Neuzugänge in der Liegehalle zu registrieren.
Es war ein eiskalter Januartag mit wolkenlosem, blauem Himmel. Und so sah ich vom Nürburgring kommend zwei englische Lightnings im Tiefflug über Adenau fliegen. Sie drehten eine Runde und ich dachte, sie seien weitergeflogen. Inzwischen war ich auf der Toilette angekommen. Das Fenster ging zum Hof hinaus. Ich konnte sehen, wie genau über der Liegehalle zwei Bomben abgeworfen wurden. Ich hatte das Gefühl, meine Lunge würde platzen. Es stieg eine riesige Staubwolke auf. Im Haus unten rannten und schrieen alle durcheinander. Das Toilettenfenster samt Rahmen und Glas fiel über mich. Aus meinen Haaren floss mir Blut übers Gesicht. Ich versuchte vergeblich, auf den Flur zu kommen, aber die Türe hatte sich verzogen. Ich war eingesperrt!
Als der Lärm sich draußen etwas gelegt hatte, hörte ich meinen Namen rufen. Man vermisste mich und fand mich endlich. Ein Sanitäter trat die Türe ein und befreite mich. Das Bild, das sich mir draußen bot, hat sich bis heute in mein Gedächtnis gegraben: Das Dach der Halle hatte sich vollständig angehoben. Oben drauf lag ein Bein – mit einer weißen Hose und schwarzem Stiefel. Darunter hatte keiner überlebt. Auf dem Hof war man damit beschäftigt, die Leiche von Martha Zenzen zu versorgen. Sie war mit Bordwaffen gezielt beschossen worden. 18 Leben waren ausgelöscht worden. Nur langsam wurde mir klar, welches Glück ich in all dem Unglück doch hatte.
Heute, mit 83 Jahren, möchte ich meinen Kindern und Enkeln sagen, dass Frieden in der Welt und in der Familie doch das allerhöchste Gut ist!
Anneliese Holzemer